Theoretischer Hintergrund
Der Titel des Projektes „Studienpioniere – Ein inklusives Hochschulkonzept zur Studierendenförderung“
weist bereits darauf hin, dass es zum einen um eine Gruppe von
Studierenden geht, nämlich um Personen, die als erste ihrer Familien
studieren und dass zum anderen Hochschule als inklusiver Raum gedacht
wird, der Diversität zulässt und wertschätzt, jedoch versucht
Hierarchisierungen unterschiedlicher Gruppenzugehörigkeiten und etwaigen
Machtgefällen entgegenzuwirken. In diesem Sinne ist das Projekt mehr
als nur eines, das sich unter den sehr unterschiedlich gebrauchten
Begriff des Diversity Management subsumieren lässt. Vielmehr handelt es
sich wegen des Anspruches, Hierarchien und Hierarchisierungen, die mit
(konstruierten) Gruppenzugehörigkeiten verknüpft sind, zu begegnen,
dabei mindestens auch um Diversity Politics.
Theoretisch-konzeptionelle Fragen
Dieser
Gegenstand und der Anspruch werfen Fragen auf, die nicht nur
praktischer, sondern theoretisch-konzeptioneller Antworten bedürfen,
weshalb im Folgenden der heuristische Ansatz des Projektes kurz umrissen
werden soll:
Warum eine spezielle Gruppe von Studierenden
herausgreifen und sie so womöglich zu klientelisieren, d.h. zu einer Art
„Opfergruppe“ zu machen und sie damit möglicherweise Stigmatisierungen
und Diskriminierungen auszusetzen? Wie lässt sich das verhindern?
Wie lässt es sich vermeiden, einen Defizite generierenden Blick auf eine Gruppe zu richten, die gestärkt werden soll?
Wie
lässt es sich verhindern, dass unterschiedliche Diversity-Dimensionen
gegeneinander ausgespielt werden, etwa Studienpioniere zu stärken bzw.
deren Studienbedingungen zu verbessern und alle anderen Menschen mit
unterschiedlichen hierarchisierten Gruppenzuschreibungen und
-zugehörigkeiten zu vergessen oder gar zu benachteiligen?
Wenn es
um eine bestimmte Gruppe oder mehrere bestimmte Gruppen geht, wäre dann
ein Integrationskonzept nicht passender als der Inklusionsansatz?
Habitus-Struktur-Reflexivität, Inklusion und Ressourcenorientierung
Um
die berechtigten Fragen und die benannten Probleme aufzugreifen,
arbeiten wir in dem Projekt mit einem Ansatz, der es erlaubt, von
Gruppenzugehörigkeiten zu abstrahieren, alle gewünschten
Diversity-Dimensionen berücksichtigen zu können und die Studienprobleme
bzw. das vermeintliche Versagen nicht ausschließlich auf der Seite der
Studierenden anzusiedeln.
Mit der Heuristik der
Habitus-Struktur-Reflexivität (Schmitt 2010; 2014) nehmen wir deshalb
nicht nur die Seite der Akteur*innen (in diesem Falle der Studierenden)
in den Blick, sondern verstehen ein gutes und erfolgreiches Studieren
unter anderem als eine Frage der Passung von mitgebrachten Ressourcen
sowie sozialen Dispositionen (Habitus) der Studierenden auf der einen
Seite und den Strukturen des Studiums auf der anderen. Damit ist erstens
sichergestellt, dass die Probleme nicht ausschließlich auf der Seite
der Subjekte angesiedelt und bearbeitet werden sollen, sondern auch eine
Modifikation von Studienstrukturen ins Blickfeld gerückt wird. Zweitens
bezeichnet die Habitus-Seite nicht eine bestimmte Gruppe von
Studierenden, denn unter Habitus werden alle Erfahrungen verstanden, die
Menschen von Geburt an machen und die sich in ihrem Körper
niederschlagen. Jeder Mensch hat also einen Habitus, der aus einem
stabilen Kern früher Erfahrungen besteht, sich aber permanent im Zuge
neuer Erfahrungen modifiziert und aktualisiert. Das bedeutet drittens,
dass nicht verschiedene Diversity-Dimensionen ignoriert oder
gegeneinander ausgespielt werden. In den Habitus fließen alle sozial
generierten individuellen Erfahrungen ein. Er ist somit gleichermaßen
individuell und sozial, auch wenn der Begriff in der Forschung häufig
dazu verwendet wird, die Dimensionen soziale Herkunft und Geschlecht
anzusprechen bzw. zu untersuchen.
Habitus-Struktur-Passungsverhältnisse
unter die Lupe zu nehmen bzw. im Sinne eines guten Studiums zu
modifizieren bedeutet viertens nicht – und dies wäre auch gar nicht
möglich – eine 100%ige Passung für alle Studierenden zu gewährleisten.
Damit würden auch Entwicklungschancen und -möglichkeiten gebremst. Dies
ist nicht Ziel und wird von Studierenden auch nicht gewünscht. Oft
werden auf unterschiedlich subtile Art Habitustransformationswünsche von
Studierenden geäußert. Diese können aber nicht realisiert werden, wenn
die bisherige Biographie ignoriert oder gar im Abgleich mit den
umgebenden Strukturen als defizitär erlebt wird. Es ist bekannt, dass
eine Grundvoraussetzung für ein zufriedenstellendes Studium die
Möglichkeit ist, die eigene Biographie mit in das Feld des Studierens
einbringen zu können (Graf/Krischke 2004). Diese Möglichkeiten sind für
Studienpioniere begrenzter, weil ihre Biographie in der Regel bislang
weniger mit dem akademischen Feld konfrontiert wurde, dieses ihnen also
tendenziell fremder ist.
Dadurch, dass im Projekt vor allem die
Seite der wahrgenommen Strukturen fokussiert wird, ist fünftens auch
klar, dass es nicht um Integration geht. Denn dies würde bedeuten, etwas
Fremdes, Unpassendes in etwas Bestehendes zu integrieren. Sechstens
kann der Ansatz der Habitus-Struktur-Reflexivität damit auch den Blick
auf die Ressourcen einer heterogenen Studierendenschaft richten, für die
die Strukturen des Studiums (z.B. Lehrende, Prüfungsordnungen,
didaktische Konzepte) bisweilen möglicherweise wenig sensibel sind.
Mit
Habitus-Struktur-Reflexivität und Inklusion sind siebtens alle
Akteur*innen (Lehrende, Studierende, Mitarbeiter*innen der Verwaltung)
der Hochschule als Einfluss- und Veränderungsgröße angesprochen. Mit
diesem Ansatz kann achtens auch der Gefahr begegnet werden, die dem
Konzept der Inklusion innewohnt, nämlich alle Elemente des Systems als
„gleich unterschiedlich“ wahrzunehmen und damit Ungleichheit zu
verschleiern und effektiv zu ihrer Reproduktion beizutragen. Dies ist
mit der Brille der Habitus-Struktur-Reflexivität nicht mehr möglich.
„Was die Sozialwelt hervorgebracht hat, kann die Sozialwelt mit einem
solchen Wissen ausgerüstet auch wieder abschaffen. Eines ist jedenfalls
sicher: nichts ist weniger unschuldig, als den Dingen einfach ihren Lauf
zu lassen“ (Bourdieu 1997; 826).
Literatur:
Bourdieu, Pierre u.a. (1997): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz.
Graf,
Gabriele/Krischke, Norbert R. (2004): Psychische Belastungen und
Arbeitsstörungen im Studium. Grundlagen und Konzepte der
Krisenbewältigung für Studierende und Psychologen, Stuttgart.
Schmitt, Lars (2010): Bestellt und nicht abgeholt. Soziale Ungleichheit und Habitus-Struktur-Konflikte im Studium, Wiesbaden.
Schmitt,
Lars (2014): Der Herkunft begegnen... – Habitus-Struktur-Reflexivität
in der Hochschullehre, in: Diversität konkret. Handreichungen für das
Lehren und Lernen an deutschen Hochschulen, Heft 1/2014.