Ein Beitrag von Julien Sippel (B.A., Sozialarbeit/-pädagogik) - Juli 2025 Kontakt: juliensippel@googlemail.com
Die Hürde der Behördenschreiben: Mehr Autonomie durch KI-basierte Unterstützung im Umgang mit Ämtern
In meiner praktischen Arbeit im Ambulant Betreuten Wohnen für Menschen mit psychischen Erkrankungen erlebe ich täglich, wie belastend die Konfrontation mit Behördenpost für meine KlientInnen sein kann. Komplexe Formulare und formelle Schreiben vom Jobcenter oder der Krankenkasse führen oft zu Überforderung, Stress und im schlimmsten Fall zum Versäumen wichtiger Fristen. Für Menschen, die durch Symptome wie Antriebslosigkeit, Konzentrationsschwäche oder schlichtweg Überforderung im Alltag bereits stark gefordert sind, wird der Papierkram zu einer scheinbar unüberwindbaren Hürde.
Aus dieser Beobachtung entstand Anfang 2024, im Rahmen meines Anerkennungspraktikums die Idee für das Projekt „KI-basiertes Empowerment“. Das Ziel war es, zu erproben, ob ein KI-gestütztes Tool eine Klientin dabei unterstützen kann, ihren Post- und Schriftverkehr wieder selbstständiger zu bewältigen. Es ging nicht darum, die Fachkraft zu ersetzen, sondern darum, durch neue Technologien Selbstbestimmung und Lebensqualität zu fördern, ganz im Sinne des Empowerment-Ansatzes. Als konkretes Ziel wurde formuliert, dass die Klientin nach drei Monaten in der Lage sein sollte, die Hälfte ihrer Post mithilfe der KI eigenständig zu verstehen und die nötigen Schritte einzuleiten.
Eindrücke aus der konkreten Durchführung: Die KI wird zum persönlichen Assistenten
Für das Projekt richtete ich ein so genanntes Custom-GPT (GPT-4) so ein, dass es, angepasst an die vorliegende Diagnose, als freundlicher, humorvoller und motivierender Assistent fungierte. Diesem GPT lag ein „Masterprompt“ zu Grunde, in welchem Kontext, Persona und Aufgabe definiert und vorab gemeinsam mit der Klientin erarbeitet wurde. Folglich agierte dieser eigens kreierte Assistent als Unterstützung, die Klientin in einfacher Sprache durch ihren Post- und Schriftverkehr, Schritt für Schritt zu navigieren, To-Dos aufzuzeigen, als auch Antwortschreiben zu verfassen. Sie musste nun lediglich ein Foto der zu bearbeitenden Post in den Chat einfügen und der Assistent entschlüsselte für sie die Schreiben und bot automatisch weitere Unterstützung an. Um dem Datenschutz gerecht zu werden, nutzte die Klientin ihren eigenen Account und fotografierte lediglich die Textpassagen ihrer Post.
Die Klientin, die sehr computeraffin und an dem Projekt interessiert war, wurde vollumfänglich in die Gestaltung und Anpassung mit einbezogen. In wöchentlichen Treffen richteten wir das Tool ein und erprobten es gemeinsam. Nach einer kurzen Übungsphase begann sie, die KI für ihre echte Post zu nutzen. Besonders eindrücklich war zu sehen, wie die Anwendung der KI ihre Motivation, sich mit den ungeliebten Briefen zu befassen, auch in Phasen gedrückter Stimmung steigern konnte. Sie beherrschte das Tool schnell und schaffte es, etwa 30-40 % ihrer Post damit zu bearbeiten – ein großer Erfolg für ihre Selbstständigkeit.
Gleichzeitig zeigte sich eine zentrale Erkenntnis: Die Technik allein reicht nicht aus. Die Motivation der Klientin schwankte krankheitsbedingt. An manchen Tagen war ihr Bedürfnis nach direktem menschlichem Austausch und Zuspruch größer als der Wunsch nach technischer Unterstützung. Der spontane, persönliche Dialog während der Bearbeitung war ein Aspekt, den die KI nicht ersetzen konnte.
Fazit und Ausblick: Der Mensch bleibt unersetzlich, doch die KI kann die Selbstständigkeit erheblich fördern
Das Projekt hat gezeigt, dass KI in der Sozialen Arbeit ein enormes Potenzial als Werkzeug zur Stärkung von Ressourcen birgt. Es stieß auf hohe Akzeptanz und konnte die Selbstwirksamkeit der Klientin spürbar fördern. Das quantitative Ziel wurde zwar nicht ganz erreicht, doch der qualitative Gewinn war immens.
Meine wichtigste persönliche Erkenntnis ist jedoch: Die professionelle, vertrauensvolle und empathische Beziehung zwischen KlientInnen und Fachkräften ist und bleibt elementar für Menschen mit Unterstützungsbedarf. Hürden wie das klassische „Beamtendeutsch“ und umfangreiche Formulare werden (vorerst) bestehen bleiben, können jedoch mit KI-Tools erheblich gemindert werden. Nichtsdestotrotz sind Gesellschaft und Politik angehalten Barrierefreiheit auf allen Ebenen mitzudenken und zu gestalten.
Seit der Durchführung des Projekts haben sich die KI-Modelle rasant weiterentwickelt. Ihr Einsatz wird heute bereits für komplexe Aufgaben wie die Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen diskutiert oder in eigens entwickelten Prototypen, wie an der Universität Kassel, für die Soziale Arbeit erprobt. Wohin diese Entwicklungen genau führen, wissen wir noch nicht. Doch sie bieten uns schon jetzt ein enormes Potenzial zur Entlastung in der Sozialen Arbeit und schaffen damit das Wertvollste: mehr Freiräume und Zeit für die Menschen selbst.